Der BVMed hat den Branchenbericht Medizintechnologien 2018 vorgelegt und bietet diesen auf seiner Webseite www.bvmed.de zum Download an. Ein guter Anlass, sich mit dem MedTech-Markt und dem BVMed zu beschäftigen.
Nach eigenen Angaben vertritt der BVMed rund 225 Unternehmen, wobei dies in erster Linie Unternehmen aus dem Bereich der Gebrauchs- und Verbrauchsgüter sind.
In Aug./Sept. 2017 führte der BVMed bei seinen Mitgliedern eine Befragung durch, an der sich 106 Unternehmen beteiligten. Zum Thema Digitalisierung gaben 39% der MedTech-Unternehmen an, dass ihre Produkte und Dienstleistungen sehr stark bzw. stark von der Digitalisierung betroffen sind. Das ist insofern bemerkenswert, als dass von den befragten Unternehmen kaum eines aktive Medizinprodukte im Repertoire hat (siehe 1). Um Digitalisierung des Geschäfts mit Medizinprodukten kann es also nicht gehen, oder doch? Wie wurde „von der Digitalisierung betroffen“ in der Befragung operationalisiert, was haben die Befragten darunter verstanden? Dazu findet sich im Bericht leider kein Hinweis.
Der Bericht führt auf, dass es in Deutschland rund 1.230 Medizinprodukte-Hersteller mit mehr als 20 Beschäftigten gibt, hinzukommen 11.300 Kleinstunternehmen. Wären die 39% Digitalisierungs-Betroffene repräsentativ, so beträfe Digitalisierung rund 480 Unternehmen mit mehr als 20 Mitarbeitern und 4.400 Kleinstunternehmen.
Aufklärung über den Begriff der Digitalisierung erhoffte ich mir im Kapitel „Medizintechnologien der Zukunft“. Unter den 7 wesentlichen Trends „Medizintechnik 2020“ finden sich „Telemedizin“, „IT – Information und Kommunikation der nächsten Generation“ sowie „Modellierung und Simulation für die Diagnostik und Therapieplanung“. Das mag alles richtig sein, ist aber immer noch die Produkte-zentrierte Perspektive: Da verkauft das Unternehmen Telemedizin (scheinbar aber nur sehr schleppend, jedenfalls ist das Thema schon sehr lange auf der Liste der innovativen Themen), eine digitale Patientenakte oder computerassistierte Diagnostik und Therapieplanung. Aber was ist mit der zwingenden Änderung der Geschäftsmodelle durch Digitalisierung? So gibt es beispielsweise mehrere Krankenhäuser, die Prothesen mit dem 3D-Drucker fertigen (Link). Welche Rolle hat in so einem Modell der Prothesenhersteller? Liefert er zukünftig nur noch das Referenzmodell, welches die Krankenhäuser im 3D-Drucker vervielfältigen?
Im weiteren Verlauf des Branchenberichts Medizintechnologien wird im Hinblick auf die Zukunftstrends die Medizintechnik-Studie des BMBF zitiert. Diese nennt als die drei wichtigsten Trends der Medizintechnik: Computerisierung, Miniaturisierung und molekulare Funktionalitäten. Aber auch hier wird wieder die wohlbekannte Produkte-zentrierte Perspektive eingenommen: Zum Thema Computerisierung werden Bildverarbeitung, Modellierung und Simulation aufgeführt – alles Themen, welche schon im Rahmen meiner Promotion relevant waren. Außerdem: „Ein zweites Feld sind eHealth, Telemedizin und TeleMonitoring sowie die erforderliche Vernetzung. Eng verbunden mit diesen Ansätzen ist die Vision einer europaweiten elektronischen Patientenakte.“ – auch das wäre nicht besonders bemerkenswert, wenn hier nicht von der Vision einer europaweiten elektronischen Patientenakte gesprochen werden würde. Tragisch, dass nach 20 Jahren Entwicklung dies immer noch als Vision bezeichnet wird.
- Zusammenfassend identifizieren die Autoren des Branchenberichts 3 MedTech-Entwicklungen:
Integrierte Intervention: 3D Patientenmodelle, intraoperative bildgebende Diagnoseverfahren, minimal-invasiver OP-Techniken – das ist alles richtig und wichtig, aber eine schon seit langem andauernde Entwicklung - Integrierte Information: Dabei legen die Autoren den Fokus auf „die Zusammenführung und intelligente Nutzung von Patientendaten“ und „auch medizintechnische Geräte sowie Prozess- oder Betriebsabläufe der medizinischen Versorgung werden vernetzt“. Dies allerdings als innovative Entwicklung zu bezeichnen ist ungefähr so, als würde man das Fahren mit Verbrennungsmotor als neuen Trend im Straßenverkehr identifizieren. Ja, die Vernetzung medizintechnische Geräte findet statt, aber wie werden die damit einhergehenden Themen IT-Sicherheit, Datenschutz und der sichere Betrieb gewährleistet? Welche Entwicklungen bringen hierfür Lösungen? Solche Themen wurden bereits mit dem Forschungsprojekt OR.NET adressiert, aber auch das Forschungsprojekt MoVE thematisiert die Vernetzung von Medizinprodukten und die damit einhergehenden Anforderungen an Zulassung und Betrieb. Synagon ist in beide Projekte involviert und bringt dort die Betreiberperspektive ein.
Die MedTech-Entwicklung „Integrierte Information“ umfasst aber auch „Big Data“ und die „Erforschung umfassender Patientenmodelle“, „mit deren Hilfe Diagnosen und Therapieentscheidungen schneller und sicherer werden“. Das ist tatsächlich eine Entwicklung, die insbesondere vor dem Hintergrund der Innovationen im Bereich KI noch deutlich an Fahrt aufnehmen wird. Ich bin sehr gespannt, wie hier die Frage nach dem Marktzugang und dem Konformitätsbewertungsverfahren gelöst wird – bei einem Verfahren, das per Definition aufgrund des ständigen Lernens ein nicht zwingend reproduzierbares Verhalten aufweist.
Ich hatte mir unter „Medizintechnologien der Zukunft“ deutlich mehr Aussagen aus dem Spannungsfeld Digitalisierung im Sinne von Disruption bestehender Geschäftsmodelle und dem sehr starren Korsett des Marktzugangs und der Überwachung von Medizinprodukten versprochen. Hier fehlt die Betreiberperspektive völlig, welche im Kontext der Digitalisierung zwingend durch Hersteller und Lieferanten zu berücksichtigen ist. Digitalisierung ist nicht die Ausstattung der eigenen Produkte mit einem Prozessor, sondern die Transformation der Kernleistung des Anbieters in die digitale Welt. Also möglicherweise tatsächlich die Bereitstellung der gesamten Produktionsumgebung für Prothesen im Krankenhaus, sodass diese sich ihre Prothesen selber „drucken“ können.
Aber vielleicht bringt der Branchenbericht Medizintechnologien 2019 zur Digitalisierung mehr. Spannend nur, dass der BVMed auf seiner Webseite eine „bessere Fortschrittskultur“ einfordert.
Referenzen:
1: 106 Unternehmen aus Deutschland und den USA: 73 % Hersteller, 21 % Handelsunternehmen, 4 % Zulieferer, Rest Sonstige. Produktbereiche: 47 % Implantate, 35 % Hilfsmittel, 33 % OP-Produkte bzw. OP-Sets, 19 % Verbandmittel und 14 % Dienstleistungen.